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März - Mai 13

Text | engl. | Abbildungen



Künstlerin: Corinna Schnitt

Corinna Schnitts Filme zeigen alltägliche Orte, sie handeln von geregelten, oftmals bürgerlichen Lebensformen, die im filmischen Verlauf zunehmend absurd, gar unheimlich anmuten. Die Protagonisten wirken in ihrer Umgebung stets ein wenig deplatziert und werden in ihrer Unsicherheit vorsichtig beobachtbar gemacht. Schnitts Bildsprache changiert dabei zwischen dokumentarischer Beobachtung und subtiler Inszenierung. Das Bildgeschehen wird latent, niemals vollständig in seiner Konstruiertheit erkennbar. Schnitt stört durch eine betont langsame Bildsprache den Blick aufs Gewohnte, Alltägliche, und lässt die vertraute Wirklichkeit als fragiles Konstrukt erscheinen.

Die Ausstellung Living a Beautiful Life setzt zwei Filme der Künstlerin in Beziehung, die Wirklichkeitsentwürfe – Wirklichkeit meint in diesem Zusammenhang Lebenswirklichkeit – in den Blick nehmen. In kleinsten Gesten, Routinen und Strukturen, aber auch in den Wünschen und Hoffnungen der Protagonisten bilden sich jene Lebenswirklichkeiten ab. Im filmischen Verlauf werden diese als Systeme verinnerlichter, klischeehafter Vorbilder und Vorstellungen (Living a Beautiful Life) sowie als konventionalisierte Raumordnung (Playground) lesbar.

Der Titel des Films Living a Beautiful Life (2004) lässt einen durchgängigen Topos im filmischen Werk von Corinna Schnitt erkennen und bildet zugleich Titel und Metathema der Ausstellung: Der Titel suggeriert diffuse Vorstellungen, Wünsche und Hoffnungen eines „schönes“ Lebens; Während der interviewähnliche Film Living a Beautiful Life vom idealen Leben eines erfolgreichen Ehepaars handelt – die porträtierten Protagonisten werden im Verlauf des Films jedoch zunehmend zu Zerrbildern standardisierter Vorstellungen von Glück (Attraktivität, Erfolg, Reichtum) –, fungiert der Ort des Kinderspielplatzes in Playground als Analogon für gesellschaftlichen Raum. Der Spielplatz repräsentiert hier einen Ort, der vordergründig freies, ungerichtetes Handeln erlaubt, doch letztlich aufgrund seiner räumlichen Strukturen und Vorgaben als Ort normierten Handelns, als Regulativ körperlicher Aktivität erscheint.

Schnitt konfrontiert den Betrachter in der Videoprojektion Playground mit einem beinahe lebensgroßen Spielplatz. Man sieht einen betonierten Platz mit Rutsche und Klettergerüst vor einer weißen Wand. Nur allmählich tritt der Spielplatz zu Beginn des Films aus dem Dunkel hervor, um zur „Bühne“ einer Folge unspektakulärer Ereignisse zu werden: Man verfolgt Blätter, die vom Wind getrieben durchs Bild ziehen, ein Kind, das kurz das Geländer hochklettert um alsbald wieder „abzutreten“, oder aber einen Vogel, der Nahrung suchend durchs Bild hüpft. Über die Dauer von fünfzehn Minuten zieht ein gesamter Tagesverlauf am Betrachter vorbei, 12 Stunden, die sich gleich einer Sonnenuhr an den langsamen Veränderungen der Schattenwürfe der Bäume ablesen lassen. Der auf den ersten Blick einfach wirkende Zeitraffer folgt dabei jedoch einem Montageprinzip, das unterschiedliche Bildtempi miteinander verbindet. In jenen Abschnitten, in denen nichts Markantes geschieht, wird das Bild beschleunigt, einzig die Unruhe und Veränderung der Schattenwürfe der Bäume unterscheidet das Bild von einem Standbild. Die Momente aber, in denen die genannten „Auftritte“ von Kind, Laub und Vogel stattfinden, werden unbeschleunigt, in Realzeit wiedergegeben.

Schnitt fügt dem Laufbild, das sich bei genauerer Betrachtung als vermeintlich kohärentes Bildkontinuum erweist, eine Tonspur in Form eines kontinuierlichen Vogelgezwitschers hinzu. Das Vogelgezwitscher schafft eine temporale Klammer, das den Film als Kontinuum, als Aufzeichnung eines geradezu natürlich anmutenden Geschehens erscheinen lässt. Der Betrachter wird auf diese Weise, obwohl ihm in kurzer Zeit eine Reihe von Mikroszenen vorgeführt wird, nicht jenem Bildstakkato ausgesetzt, das für den Zeitraffer typisch ist. Im Gegenteil, Schnitt gelingt es, geradezu Langeweile hervorzurufen, obwohl sie wesentlich mit beschleunigter Filmzeit arbeitet. Das Unspektakuläre wirkt durch diese Bildregie derart überhöht und in den Vordergrund gerückt, sodass es zu einer Provokation wird, die den Betrachter herausfordert, seiner eigenen Wahrnehmungszeit und -tätigkeit gewahr zu werden.
Die Leere des Spielplatzes lässt diesen zum Erscheinungsgrund, zur Bühne avancieren, die die wenigen stattfindenden Ereignisse narrativ auflädt. Schnitt unternimmt zudem am Filmset einen im Film liminal wahrnehmbaren, kaum merklichen Eingriff: der Spielplatz wird durch den Bau einer weißen dahinterliegenden Wand hervorgehoben und auf diese Weise filmisch zum Bild im Bild gemacht. Die Künstlerin verleiht dem Spielplatz durch diese Form analogen „Freistellens“ 1) eine künstliche Anmutung, sie evoziert filmisch eine Art gesteigerten Realismus, der zwischen modellhafter Hyperrealität und nüchtern-dokumentarischer Wiedergabe changiert.

Der Beobachtungsgegenstand liegt hier in der Grammatik des Ortes, in seiner Konvention. Die Institution des Spielplatzes wird als Ort der Widerspiegelung gesellschaftlicher Strukturen und Vorstellungen beobachtbar gemacht: Spielerisch wird hier räumliches Verhalten eingeübt, affirmiert und der Körper der Heranwachsenden geformt. Der Spielplatz fungiert demnach als Ort, der räumliche Ordnung erfahrbar macht, dabei aber stets die Vorstellungen einer Zeit von Raum, Körper und Handeln mitrepräsentiert.

In beiden Filmen der Ausstellung stellt Schnitt überhöhte, durch kaum merkliche strukturelle Eingriffe veränderte und abstrahierte Formen von Alltag vor. Während Playground „bloß“ einen Kinderspielplatz „freistellt“, ihn isoliert und auf diese Weise ob seiner Grammatik und Konventionalität befragt, fokussiert Living a Beautiful Life die vorgestellte Lebensform der Protagonisten als sich ins Absurde wendender Superlativ.

Living a Beautiful Life zeigt ein gut aussehendes Ehepaar mittleren Alters, beide sind erfolgreich, selbstbewusst und zielorientiert. Sie sprechen, stets getrennt voneinander, von unterschiedlichen Orten ihrer Villa in Beverly Hills aus direkt in die Kamera, um von ihrem betont glücklichen Leben zu berichten. Der Mann erzählt beispielsweise vor dem Karmin sitzend von seinen Leistungen als Kampfpilot und seinem Vorhaben, nach dem Austritt aus dem Militär erfolgreicher Wissenschaftler zu werden. Er schildert mit bis an die Grenzen der Erträglichkeit gesteigertem Selbstbewusstsein von seiner schönen Frau und seinen Kindern. Weniger direkt und auch selbstreflektierter spricht die Frau über ihr glückliches Leben, ihren Kindern usw.; Ihre Wünsche wirken dabei jedoch besonnener und bescheidener. Beide aber beschreiben ein Leben der Superlative, das eigentlich keine Steigerung mehr denken lässt, das jedoch trotz der Direktheit der Aufnahme und trotz der durch die Sprache der Protagonisten vermittelten Authentizität zunehmend unglaubwürdig und künstlich wirkt. Realiter legt Schnitt den Protagonisten Aussagen Jugendlicher in den Mund, die sie im Rahmen eines Studienaufenthaltes in Kalifornien über ihre Vorstellung eines glücklichen Lebens befragt hatte 2). Die Wünsche und Vorstellungen der Jugendlichen zeigten sich durchwegs von konventionellen und oftmals konsumistisch geprägten Vor- und Leitbildern durchzogen.

Die Darsteller erzählen demnach von einem Leben, das dergleichen Wünsche und Ideale repräsentiert. Sie überhöhen jene Vorstellungen sogar, indem sie nicht nur darüber sprechen, was sie bereits erreicht haben und besitzen, sondern auch von nicht weniger unbescheidenen Zielen, die sie noch anstreben. Der Betrachter sieht sich mit einer Form fiktionalen Glücks „zweiter Ordnung“ konfrontiert, mit einer Form von gesteigerter Wirklichkeit und Künstlichkeit, die sich in ähnlicher Form, wenn auch auf den Ort bezogen, ebenso in Playground wiederfinden lässt. Die Figuren fungieren als verdichtete Projektionen und bilden, ähnlich dem Ort des Spielplatzes in Playground, einen Spiegel gesellschaftlicher Strukturen und Konventionen.

Schnitt fügt am Ende des Films einen kurzen Ausschnitt des ostdeutschen Kinderfilms „Der Katzenprinz“ aus dem Jahr 1978 hinzu. Der Betrachter sieht sich erneut einem paradiesischen Szenario gegenüber: man beobachtet nackte Babys und Kleinkinder in freier Natur, die mit jungen Raubkatzen spielen – ein Bild, das, nicht unähnlich den zuvor gezeigten Interviews, einen Zustand absoluten und geradezu „unerträglichen“ Glücks suggeriert, einen Idealzustand, der schließlich zum Zerrbild mutiert und den Betrachter auf sein eigenes, wohl ungleich weniger perfektes Leben zurückwirft. Somit verschiebt sich der Blick auf die Projektionen des Betrachters, seine Vorstellungen, Wünsche und mehr noch, auf deren verborgene Funktionsweise und Grammatik.
Schnitt gestaltet in ihren Filmen den Übergang vom Dokumentarischen zum Fiktionalen fließend. Obschon sich die Künstlerin einer streng dokumentarischen Bildsprache bedient, erweist sich das beobachtete „Wirkliche“ als subtiles Konstrukt, das die Ebene der filmischen Kodierung mit einschließt. Der Zuseher vermag in dieser nüchtern und dokumentarisch anmutenden Fiktion nur schwer, einen eindeutigen Standpunkt einzunehmen. Dennoch geht es nicht um Lenkung, um Manipulation des Betrachters, sondern um die Schaffung einer reflexiven Distanz, die die Bildregie als wirklichkeitskonstitutives Agens beobachtbar macht. Nicht also das Geschehen allein, ob das Interview zweier Personen und deren Schilderung eines perfekten Lebens, oder der Spielplatz als Ort der Konventionalisierung von Körperhandlungen, sondern ebenso die Art der Darstellung bilden Schnitts „Bildgegenstand“. In beiderlei Hinsicht aber, sowohl narrativ/bildgegenständlich als auch bildsprachlich/medienreflexiv, fokussiert Schnitt die jeweils inhärenten blinden Flecken der Wahrnehmung. Schnitt richtet den Blick des Betrachters somit auch stets auf dessen eigenes Sehen zurück. Man sieht sich selbst sehend, beobachtend und imaginierend. Diese Reziprozität des Blicks, das Changieren zwischen Perzeption und Projektion, bildet einen steten Unruheherd in den Filmen Schnitts, der beim Betrachter ein latentes Unbehagen bedingt. Die Künstlerin zielt auf jenes Moment der Verunsicherung, um einerseits im vermeintlich Vertrauten und Unauffälligen gesellschaftliche Grammatiken in den Blick zu nehmen und andererseits Mechanismen des filmischen Dispositivs reflektierbar zu machen.

David Komary




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Anmerkungen:

1 „Freistellen“ bedeutet in der Bildbearbeitung das digitale Ausschneiden eines Bildausschnitts oder -gegenstands, das Lösen des Ausschnitts vom Hintergrund.

2 Die Antworten fielen keineswegs geschlechtsneutral aus. Während Buben Besitztümer, Erfolg, eine attraktive Frau usw.  erstrebenswert fanden, waren für Mädchen Aussehen, Kleidung, aber auch Ausbildung und Unabhängigkeit von Bedeutung.