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time signatures
Oktober – November 19

Text | engl. | Abbildungen



KünstlerInnen: Alessandro Biggio, Lucía Simón Medina

Die KünstlerInnen der Ausstellung Time Signatures setzen sich mit Zeitlichkeit auseinander. Für Lucía Simón Medina (geb. 1987) und Alessandro Biggio (geb. 1974) ist weniger das finale Werk als der Prozess und das Werden des Werkes von Bedeutung. Der Verlauf des oftmals repetitiven künstlerischen Tuns, das zum Teil fast rituell anmutet, wird zum Gegenstand ästhetischer Reflexion. Das Werk konstituiert sich in kleinen Schritten und entsteht innerhalb eines langen Zeitraumes – durch die Aufzeichnungen von auf Primzahlenreihen basierenden Librettos bei Medina oder durch skulpturale Schichtungen aus Asche bei Biggio. Bei beiden KünstlerInnen wird das Zeitliche als eigentliches Material des künstlerischen Tuns erkennbar. Sowohl Medina als auch Biggio rekurrieren zudem auf Elementares, auf Formen des Natürlichen, wenn auch in einem weit gefassten Sinn. Denn während Biggio sich tatsächlich natürlicher, wenn auch ungewöhnlicher Materialien wie der Asche verbrannter Blätter bedient, fußen die Arbeiten Medinas auf Numerischem, auf Zahlenreihen und der ihnen inhärenten Ordnung.

Die Ausstellung Time Signatures zeigt – und dies stellt eine Besonderheit der langjährigen Kooperation der Galerie Stadtpark und AIR–ARTIST IN RESIDENCE Niederösterreich dar – nicht einen, sondern zwei der Gäste des Programms. Während die in Berlin lebende spanische Künstlerin Lucía Simón Medina noch bis Ende September zu Gast bei AIR sein wird, verbrachte der sardische Künstler Alessandro Biggio den Sommer 2017 als Gast des inter-nationalen Austauschprogramms, das seit dem Jahr 2000 vom Land Niederösterreich in Krems betrieben wird.

In den Arbeiten von Lucía Simón Medina und Alessandro Biggio lassen sich entfernt Bezüge zur Arte Povera, aber auch zur Konzeptkunst erkennen. Die Fokussierung auf die Transformation des Materials bei Biggio und die Transkodierung von Numerischem ins Poetisch-Musikalische bei Medina lässt sich durchaus konzeptuell, der Idee verpflichtet, lesen. Prozess und materielle Transformation sind dabei stets wichtiger als das finale Werk, als das vermeintlich Dargestellte. Das künstlerische Interesse richtet sich wesentlich auf Immaterielles, Flüchtiges, auf Spuren und Notate der Verzeitlichung, auf Signaturen des Zeitlichen selbst.

Die ästhetische Praxis von Lucía Simón Medina bewegt sich entlang der Schnittstellen von Sprache, Logik, Mathematik und Musikalischem. Die Künstlerin versucht eine Übertragung und gleichzeitig subtile Dekonstruktionen von einer Disziplin in eine andere. Medina bedient sich dabei der Mathematik, ohne Mathematisches im Sinn zu haben. Dabei geht es ihr nicht um eine Gegenüberstellung, etwa von Rationalem und epistemisch Unscharfem, Ästhetischem oder umgekehrt. Sie ist vielmehr am Übergang von einem (Wissens-)Medium in ein anderes interessiert. Beim Aufeinandertreffen von Rationalem und ästhetischen, intuitiv erfassbaren Wahrnehmungsereignissen zielt sie auf ein vorsprachliches Moment, auf den Zustand, kurz bevor das Präverbale zu Worten gerinnt.

Die Serie Sin título, Librettos besteht aus insgesamt 42 Heften, die im Einzelnen wie Partituren aus Zahlenfolgen anmuten. Diese Librettos weisen jedoch kein herkömmliches Notationssystem auf, sondern zeigen mit Bleistift in kleinster Schrift akribisch notierte Zahlenreihen. Sie setzen sich genauer betrachtet aus sieben Serien des Vielfachen der ersten sieben Primzahlen (1, 2, 3, 5, 7, 11, 13) zusammen. Heft 2 beinhaltet beispielsweise sämtliche Sequenzen des Vielfachen von Zwei, Heft 3 jene der Zahl Drei usw. Medina schafft hier eine Engführung von Numerischem und Musik und rekurriert dabei auf Musik und Zahlen verbindende Symmetrien und Zusammenhänge. Sie interessiert sich für informationsverarbeitende Prozesse, die sich, wie beispielsweise die Kryptografie, der unmittelbaren Sichtbarkeit entziehen. Sie verwendet die Zahl selbst als elementarste Form des Schreibens. Medina untersucht in Sin título, Librettos zudem einen Bereich, der innerhalb der Mathematik ein ungelöstes Problem darstellt. Denn für das Auftreten und Verhalten von Primzahlen existieren bis dato keine gesicherten Erklärungen. Die Arbeit kann insofern durchaus als Würdigung der Forschungen von Carl Friedrich Gauß und Bernhard Riemann gelesen werden. Der Primzahl haftet durchaus etwas Geheimnisvolles, beinahe Zahlenmystisches an, sodass das Unterfangen, sich ihrer ästhetisch zu bedienen, als Grenzgang zwischen Kunst und Wissenschaft sowie zwischen Rationalem und Irrationalem bezeichnet werden kann.

In den Librettos entfaltet sich ein Spannungsfeld zwischen der Profanität der Zahlen und dem Anklingen einer ästhetischen Ordnung, deren Gesetzmäßigkeiten dem Betrachter verborgen bleiben. Medinas Arbeiten deuten auf solche Gesetzmäßigkeiten hin, ohne sie als dogmatisch zu verstehen oder sie als ästhetisches Ideal zu postulieren. Sie möchte diese Ordnung nicht epistemisch erschließen, sondern ästhetisch erfahrbar machen. Die Librettos adressieren den explorativen Geist sowie das sinnliche Vermögen des Betrachters, sich dem Gezeigten in ästhetischer Anschauung anzunähern.

Während der gesamten Arbeitszeit an den Librettos von Jänner bis Juli 2014 hat Medina täglich den für die Notationen verwendeten Bleistift am Kalenderblatt des jeweiligen Tages gespitzt. Wenn die Fläche nicht ausreichte, hat sie zusätzlich ein A5-Blatt verwendet. Das anfängliche ästhetische Nebenprodukt verdichtete sich in Sin título, agenda schließlichzu einer eigenständigen Serie aus zum Teil vollständig mit Graphit bedeckten Beiblättern. Die beschriebenen oder eher bezeichneten Blätter bilden dabei nicht nur periphere Spuren des Prozesses, sie werden vielmehr als Signaturen des Zeitlichen selbst lesbar. Das einzelne graphitbedeckte Kalenderblatt wird vom Medium der Repräsentation von Zeit (des Tages, der Woche) zu einem Medium der Verzeitlichung selbst, eine Aufzeichnung, die sich im Rhythmus der Notation repetitiv fortschreibt.

Die Werke des sardischen Künstlers Alessandro Biggio führen den Betrachter auf eine falsche Fährte. Biggio stellte während seines Aufenthaltes in Krems im Sommer 2017 eine Vielzahl kleiner Selbstporträts in Form von Tonköpfen her, jedoch nicht, um diese später zu zeigen, sondern um sie paradoxerweise alsbald nach dem Durchtrocknen in Wasser wieder aufzulösen, sie also zu zerstören. Anschließend trug er das Ton-Wasser-Gemisch auf Baumwollstoffe auf. Das auf diese Weise wiedergewonnene Grundmaterial fungiert als Grundierung für formensprachlich gänzlich abstrakte, nahezu objekthafte Leinwandarbeiten. Hat der Betrachter diesen verstörend-destruktiven Ablauf nachvollzogen, wird klar, dass es bei Biggio nicht um ein wie immer geartetes darstellerisches Resultat geht. Er interessiert sich vielmehr für den Prozess der Transformation, des Übergangs, des Werdens. Das Moment der Auflösung, die Pulverisierung der Tonkopfskulpturen, lässt die zeitliche Dimension, mehr noch die potentielle Vergänglichkeit in den Vordergrund rücken. Biggios Werke handeln nicht vom Dauerhaften, Werkhaft-Manifesten, sondern von grundlegenden Fragen nach dem Sein, dem Werden und schließlich auch vom Vergehen und Schwinden. In seinen subtil geschaffenen Transformationsprozessen übergibt Biggio die Regie ans Unkontrollierbare. Er lässt die stoffliche Komponente des Materials zum Tragen kommen, als wolle er nicht bloß den eigenen Willen entkräften, sondern künstlerische Intentionalität selbst ad absurdum führen.

Die sich dem Betrachter zeigende finale Form hat bei Biggio in der Regel einen mehrstufigen Transformationsprozess durchlaufen. Den abstrakten Leinwandformationen geht in Study for a portrait ein Prozess der Materialverwandlung voraus, der dem Betrachter verborgen bleibt, der also ins Konzeptuelle verlagert ist. Die anfänglich anvisierte Form des Selbstporträts hat durch die Zerstörung, die Auflösung der Tonköpfe in Wasser, jede Nachvollziehbarkeit und Referenz verloren. Biggio hat das Material bewusst von jeglicher Intention befreit, um eine andere, universellere Form von Porträt zu schaffen. Der Künstler versucht in diesem Arbeitsstadium rein intuitiv der jeweiligen Shaped Canvas durch Schneiden und Reißen zur Form zu verhelfen. Die einzelne Leinwand entwickelt dabei eine beinahe figürlich anmutende, charakterartige Form. Biggio tilgt also sämtliche Merkmale von Individualität der Porträts, sämtliche Signifikate des Besonderen, um durch die Auflösung und Verschmelzung jene Vielheit zu einem einzigen abstrakten Porträt, einer Art abstraktem Kompositporträt, zu verdichten. Dieses Metabildnis zielt nicht darauf, Sichtbares, Wiedererkennbares widerzuspiegeln, es gründet vielmehr auf der Vorstellung und Annahme, dass das wahrere Bild des Gegenübers (oder des Selbst) sich nicht so sehr über Formales, etwa die Gesichtszüge, artikuliert, sondern über Relationales, über die momentane oder auch generelle Beziehung zum Gegenüber. In Biggos Metaporträts vermag der Betrachter nun Ähnlichkeiten zu erkennen, hineinzulesen, die wiederum auf erfahrener Beziehung anstelle von bloß formalen Analogien gründen.

Der Zusammenhang zwischen Bild und Bildgegenstand ist bei Biggio längst kein mimetischer mehr, sondern ein rein indexikalischer, der sich über die verwendeten und transformierten Materialien Asche und Ton artikuliert. Seine zwischen Faltenwurf und Shaped Canvas oszillierenden Metaporträts bilden nicht ab, sondern stellen autonome Gebilde dar, die sich vorsichtig vom Flächigen lösen und ins Räumliche und Skulpturale ausgreifen. Die stofflichen Qualitäten der semipiktoralen Gebilde, also die Falten und Schwünge des Baumwollstoffes, verleihen ihnen eine Bewegtheit und Dynamik, während die potentielle Brüchigkeit der Imprimitur aus Ton zugleich ihre verletzliche Seite zeigt, was den Metaporträts etwas Wesenhaftes und Fragiles verleiht.

Biggio bedient sich in seinen Arbeiten nicht nur ungewöhnlicher Materialien (Asche und Tonstaub), der materielle Status seiner Skulpturen und Gebilde ist höchst prekär. Die Materialien, denen stets auch etwas Elementares zukommt, könnten ihre aktuelle Form auch wieder verändern oder verlieren. Dieser prekäre Status der skulpturalen Form wird besonders in den Ash Cones sichtbar. Hier konfrontiert Biggio den Betrachter mit kleinen konischen Skulpturen aus Asche. Biggio sammelte auf dem Grundstück seiner Familie in Calasetta, einem abgelegenen Ort auf Sardinien, abgefallene Blätter von Bäumen, die sein Vater einst gepflanzt hat. Anschließend verbrannte er die Blätter und formte aus der Asche rein von Hand aufwändig konische Skulpturen. Das Gelingen des Prozesses war dabei keineswegs gesichert, einige Skulpturen konnten nicht fertiggestellt werden, andere sind unmittelbar nach der Fertigung zerfallen. Der gelungenen Form ist stets auch ihr mögliches Scheitern implizit.

Biggios Tun changiert zwischen Gerichtet- und Ungerichtetheit, zwischen Gestaltung und Zerstörung und seine Werke zwischen Dargestelltem und abstrakt-autonomer Form. Doch geht es ihm nicht um den Widerstreit der Gegensätze oder um eine Präferenz des Zufälligen vor dem willentlichen Tun. Der Künstler scheint diese Polaritäten vielmehr als gegebenes Spannungsfeld des Seins anzunehmen, als eine Art natürlichen Zustand, in dem das Sein und Werden – auch seiner Formen – sich artikuliert und fortschreibt. Biggios Praxis lässt sich auch in dieser Hinsicht als elementar verstehen, als Reflexion von Gegebenem, von Grundsätzlichem. Biggios Arbeiten bilden vordergründig Paradoxien der Abbildung. Auf diese Weise betrachtet sind sie gescheiterte, weil zerstörte Abbilder, doch geschieht diese Dekonstruktion zugunsten der Sichtbarmachung  ihnen inhärenter universeller Prinzipien. Die sich dem Betrachter final zeigende Form, ob als konische Ascheskulptur oder als Shaped Canvas, ist längst nicht mehr Abbildbarem verpflichtet, sondern versucht das Materielle und Sichtbare zu durchdringen, zu transzendieren. Biggios Arbeiten handeln demnach weder von figürlicher, erkennbarer (Porträt) noch von abstrakter Form (Konus), sondern deuten auf wirklichkeitskonstitutive Bedingungen, mehr noch, auf Prinzipien und Kräfte des Seins hin.

In den Arbeitsweisen von Alessandro Biggio und Lucía Simón Medina spielt das transformatorische Moment eine zentrale Rolle. In Medinas Arbeiten geschieht die Verwandlung nicht wie bei Biggio von einem „Aggregatzustand“ in einen anderen, sondern von Zahlen in musikalische Notationen. Hier geschieht eine Art Umschrift, eine Transcodierung von vordergründig Rationalem, Geordnetem in ästhetisch Erfahrbares, Vages. Doch sowohl bei Medina als auch bei Biggio ist die am Ende wahrnehmbare Form, ob Librettobuch oder Shaped Canvas, nicht der eigentliche Wahrnehmungs- und Reflexionsgegenstand. Das Tun selbst, das Schreiben unzähliger Zahlenkombinationen sowie das langsame Schichten und Verdichten von Asche eröffnen eine zeitliche Dimension, die das anfängliche ästhetische Unterfangen geradezu in den Hintergrund treten lässt, sodass der zeitliche Prozess selbst zu einer spezifischen, sichtbaren Form und zum Exponat avanciert. Beide Künstlerinnen stehen der unmittelbar wahrnehmbaren Form skeptisch gegenüber und fragen nach dem Sein anstelle des Scheins, nach dem Hintergründigen jenseits des Beobachtbaren. Biggios und Medinas Interesse richtet sich auf Prinzipielles, vielleicht sogar Universelles, sie zeigen sich folglich auch skeptisch gegenüber der eigenen Intention, gegenüber Setzung, formaler Manifestation und ähnlich Genialischem. Beide KünstlerInnen zielen darauf ab, den unmittelbaren Willen im künstlerischen Tun zu umgehen oder auszuhebeln. In ihren Transkriptionen und Transformationen eröffnen sie einen nicht mehr aufs Subjektive beschränkten, aber sinnlich dezidiert subjektiv erfahrbaren Raum, einen ästhetischer Raum, der sich bei Medina in Resonanz zum Systemraum der Zahlen artikuliert und bei Biggio im amimetischen Umarbeiten des Materials ereignet. Der Betrachter wird angesichts dieser elementaren, ja existentiellen Fragestellungen auf das eigene Sein verwiesen, auf die Frage nach dem eigenen Sein jenseits des sich Zeigenden und Abbildbaren.

David Komary