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Interfering void - Andy Graydon, Albert Sackl
Juli - September 2016

Text | engl. | Abbildungen



Künstler: Francesco Gennari

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Der Ausstellungsraum in transcript lässt an karges Interieur denken. Lediglich wenige einfache Gegenstände – eine Reihe von Kleiderhaken, ein Porträt des Bewohners, eine Bodenskulptur – scheinen auf den abwesenden Bewohner zu verweisen. Die Arbeiten von Francesco Gennari sind jedoch keineswegs bloß erzählerisch gedacht, die inszenierte Leere zielt nicht auf szenisch-narrative Aufladung. Gennari schafft vielmehr ein Szenario semantischer Übertragung, in dem das Gesehene auf eine metaphysische Ebene „transkribiert“ werden kann. Der Ausstellungsraum fungiert dabei als ästhetischer Resonanzraum, in dem aktuelle, d.h. ikonische und objekthafte Wahrnehmung mit mnemischen und projektiven Teilen des Sehen in Verbindung tritt. Die Engführung von Wahrnehmung und potentieller semantischer Aufladung und Ergänzung lässt sinnliches Vermögen und begriffliches Denken/Vorstellen in ein osmotisches Verhältnis treten.

Die Kategorie des Künstlerselbstporträts bildet das zentrale Thema Gennaris. Die Arbeiten sind semiotisch paradox: Das Sujet ist in keiner Weise direkt abgebildet und erkennbar. Lediglich die Information, dass es sich um Selbstbildnisse handelt, lenkt den Blick des Betrachters und lässt das Gefüge von Gegenständen zu „Umrissen“ der abwesenden Person werden. Das Ich des Künstlers bildet Ausgangspunkt und implizites Thema der Arbeiten, dennoch verschiebt sich das semantische Zentrum. Die „Porträts“ erscheinen geradezu als Nichtbilder und mimetische Leerstellen. Gennari bedient sich in seinen „Selbstdarstellungen“ physischer Versatzstücke, doch ebenso immaterieller Konstituenten: Stimmung, Atmosphärisches und Prozesshaftes gehören genauso zum Repertoire der Selbstbeschreibung wie Gegenständliches oder Bildhaftes. Die Verweise auf den abwesenden Protagonisten bleiben stets flüchtig und wenig bestimmt. Die Gegenstände geben kaum nähere Auskunft über Subjektives. Die Selbstbildnisse zeigen in diesem Sinn nicht visuelle die Erscheinung des Porträtierten, sie widerspiegeln vielmehr Aspekte seine mentalen Verfasstheit.

Gennari betrachtet Ausstellungen als eine Art „metaphysische Landschaft“, die sich aus Selbstbildnissen unterschiedlichster Art konstelliert. Der Begriff „Landschaft“ ist hier freilich nicht topologischer, sondern ästhetisch-semiotischer Art. Die Wirkungsweise dieser von Ambiguität und Polysemie gekennzeichneten metaphysischen Landschaften entfaltet sich jenseits ihrer materiellen Konstituenten in Prozessen der Aufladung und wechselseitigen semantischen Übertragung, die sich innerhalb und zwischen den Arbeiten ereignen.

In Sette Enigmi per il mio Loden (Sieben Enigmas für meinen Lodenmantel, 2006) konfrontiert Gennari den Betrachter mit einer auf den ersten Blick seriell anmutenden Folge hakenähnlicher Objekte. Jeder der sechs Kleiderhaken stellt eine in sich schlüssige formensprachliche Setzung dar. Die morphologischen Erscheinungen der einzelnen Haken lassen dabei kunsthistorisch anspielungsreich an unterschiedlichste Ismen, gar kontradiktorische ästhetische „Weltentwürfe“ denken. Verbindendes Moment sind lediglich Größe und „Farbe“, d.h. die Vergoldung der Metallskulpturen. Der Künstler bedient sich hier weder einer einzigen noch einer „eigenen“ Formensprache. Amorphes steht selbstverständlich neben Minimalistisch-Geometrischem. Die hakenähnlichen Skulpturen sind jedoch nicht bloße Anschauungsgegenstände, die ob ihrer autonomen ästhetischen Erscheinung zu Kontemplation und Reflexion einladen. Die Wandobjekte – der Titel verweist auf einen möglichen funktionalen Charakter – können in geradezu invertiertem Duchamp’schem Verfahren vom Kunstgegenstand zum Alltagsgegenstand umsemantisiert und somit zu potentiellen Haken für den Mantel
des Künstlers werden.

Die sechs Metallskulpturen, nicht umsonst „Enigmas“ genannt, bergen jeweils das Geheimnis ihrer Zusammensetzung, ihres Aufbaus. Die unterschiedlich geformten und letztlich vergoldeten Hakenobjekte sind aus verschiedenen Metallen gebildet, beispielsweise aus Bronze oder aus Messing auf Nickelgrund usw. Den siebenten „Haken“ für den Mantel bildet der Künstler selbst. Jede mögliche „Hängung“ des Mantels über einen Haken würde nun eine einzigartige Form, einen Faltenwurf, entstehen lassen. Gennari verweist damit subtil auf den Schöpfungsakt. Die Genesis wird zur referentiellen Blaupause für künstlerisches Handeln per se. Die sieben Enigmas erscheinen in dieser Lesart als sieben Behauptungen, sieben schöpferische Momente, gar sieben „Weisen der Welterzeugung“. Die Form, die der Mantel am jeweiligen Haken potentiell entfaltet, repräsentiert für Gennari exemplarisch das ursprünglichste Moment der Vergegenständlichung, der Materialisierung einer Idee. Manifeste Form der vergoldeten Skulpturen und ephemerer Faltenwurf bilden dabei Analogien, beide zeigen im weitesten Sinn das Informieren des Materials, sie bilden aber ebenso Antagonismen, die sich mit Gegensatzpaaren wie intendiert/zufällig und manifest/flüchtig beschreiben lassen. Gennari unternimmt hier die Engführung eines alltäglichen Aktes mit einem der ältesten Narrative der Kulturgeschichte, der Genesis, und versucht aus alltäglichstem Tun und Wahrnehmen zum Sein, mehr noch zum hinter dem Sein liegenden Universellen durchzudringen. Auf subtile Weise gelingt es Gennari, dem Superlativen das Einfache gegenüberzustellen und somit den geradezu existenziellen Fragen nach dem Selbst, dem Selbst in der Welt, nach Schöpfung und Universalität, die Schwere zu nehmen.

Gennaris künstlerische Form der Selbstbespiegelung verweist nicht auf ein genialistisches Subjekt, welches das auktoriale Zentrum der Arbeit bildet. Die Selbstbildnisse sind vielmehr konzeptuell entwickelte und verhandelte Selbstbefragungen. Nicht das Persönliche und Private ist für Gennari von Interesse, sondern das Sein, Bedingungen und Konstanten des Seins jenseits des Individuellen. Gennari macht seine Erfahrungswirklichkeit zum Medium, um über Universelles „sprechen“ zu können. Er ist dabei zugleich Schaffender und Beobachter, stets in einer gewissen Distanz zum eigenen Erleben und Wahrnehmen. Gezielt schafft er Verknüpfungen materieller Dinge mit abstrakten Vorstellungen und ist dabei stets darum bemüht, jenen Grad von Ambiguität zu erreichen, der seine Arbeiten – gerade auch für ihn selbst – niemals zur Gänze erschließbar macht. Gennari „transkribiert“ Alltägliches in ein semantisch verschlüsseltes Objektnarrativ, um letztlich zu Metasubjektivem und Universellem vorzudringen.

Gennaris Werk ist von konzeptueller Kohärenz und Stringenz, jedoch gleichzeitig von formensprachlicher „Inkohärenz“ und Differenz gekennzeichnet. Der Künstler bedient sich eines Repertoires unterschiedlichster, einander geradezu „widersprechender“ Materialien, die er nicht ob ihrer autonomen Erscheinungsform wählt, sondern aufgrund materialinhärenter Charakteristika und ihrem Vermögen, innerhalb der Arbeiten Verweischarakter zu entfalten und sich so zu semantisch weiter aufladbaren Szenarien verdichten zu lassen. Manifeste Formen in Glas, Bronze, Messing stehen Prozesshaftem wie Vorgängen des Wandels, des Zerfalls, des Schwindens gegenüber und bilden innerhalb der Arbeiten antagonistische Kräfte. Vordergründig lassen sich formensprachliche Referenzen zur Minimal Art erkennen, doch anstelle der Affirmation von industrieller Fertigung und Entsubjektivierung der Gestaltung finden sich bei Gennari Verweise auf semantisch Unbestimmtes und Irrationales. Während bis 2006 noch „biologische“ Materialien (z.B. Erde, Insekten) finden verwendet Gennari in den späteren Arbeiten wie in Autoritratto su menta (con camicia bianca) (Selbstporträt auf Minze [mit weißem Hemd], 2009) befremdliche Stoffe wie Minzsirup als semantischen Träger für Unbestimmbarkeit, Flüchtigkeit und Un(be)greifbares.

Gennari ergänzt und kontrapunktiert das skulpturale Gefüge aus Sette Enigmi per il mio Loden mit einer bildhaften, fotografischen Arbeit. Autoritratto su menta (con camicia bianca) zeigt flüchtig betrachtet ein unscharfes, unterbestimmtes Selbstporträt. Die Unschärfe resultiert jedoch nicht aus fotografischer Unschärfe, etwa der fehlerhaften Fokussierung des Porträtierten. Gennari richtete die Kamera vielmehr auf einen flachen, mit Minzsirup angefüllten Behälter, auf dessen Oberfläche sich das Antlitz des Künstlers spiegelt. In Autoritratto su menta (con camicia bianca) schaltet Gennari ein „Medium“ zur optischen Distanzierung zwischen Abbildungsgegenstand und Linse. Unschärfe wird hier nicht als piktorales Manko vorgeführt. Das Bildnis, oder anders: das Selbst, entzieht sich längst schon vor dem Moment der versuchten fotografischen Fixierung. Der veränderliche „Spiegel“, die Flüssigkeitsoberfläche, gibt stets bloß ein rudimentäres, verzerrtes und veränderliches Bild wieder. Der Künstler zeigt kein unscharfes fotografisches Bild, sondern hält die Unmöglichkeit der Abbildung des Selbst per se fotografisch und präzise fest. Darin rekurriert er auf einen in seiner Arbeit immer wiederkehrenden Gedanken, dass nämlich eine unmittelbare Repräsentation des Selbst unmöglich ist, oder, übertragen gedacht, dass er es für unmöglich erachtet, sich dem Betrachter in einem wie immer gearteten Bild vermitteln zu können.

Tre colori per presentarmi al mondo, la mattina (Drei Farben, um mich morgens der Welt vorzustellen, 2013) ergänzt das interieurhafte Gefüge von Arbeiten um eine Bodenskulptur, ein dreieckig-geometrisches Gefüge aus drei unterschiedlich gefärbten Muranoglasbarren. Hier bildet nicht die äußerliche Erscheinung (wie in Autoritratto su menta), auch nicht habituelle Gewohnheiten (wie in Sette Enigmi per il mio Loden) den Ausgangs- und Referenzpunkt des Selbstbildnisses, sondern ein höchst persönliches, beinahe intimes Moment. Eine spezifische Stimmung des Künstlers am Morgen diente als Grundlage zur Auswahl der drei Farben der Glasbarren. Versteht man Farbe als Widerspiegelung konkreter, aber rational nicht näher beschreibbarer Zustände, dann ist die Farbwahl auch hier ein zutiefst intuitives, hermetisches Moment, das nur für den Künstler „erklärbar“ ist. Die Immaterialität von Farbe wird hier in feste Masse übertragen (transkribiert) und überzeitlich „konserviert“. In manifester Form sozusagen zur Ewigkeit verdammt, zeugen sie bloß noch entfernt von jenem flüchtig-situativen Stimmungsmoment. Indem die farbigen Glasbarren auf ein Vergangenes verweisen, werden sie zu Zeugen der inhärenten Vergänglichkeit ästhetischer Erfahrung und mehr noch des Seins selbst.

Gennari rekurriert hier zwar auf ein höchst individuelles Moment, eine Stimmungslage am Morgen, jedoch nicht, weil er diesem subjektiven Ereignis an sich höhere Bedeutung zumisst. Gerade weil jedem Betrachter derartige Momente aus dem Alltag vertraut sind, betrachtet er das Gefüge aus reduzierten Formen, Absenzen und Verweisen als übertagbar. Damit tritt der Künstler aus der rein subjektiven Sphäre heraus und eröffnet ein Feld der Imagination und des Hypothetischen. Die Vorstellungskraft fungiert hier als Instrument eines „Wissens“, das außerhalb des rein Individuellen liegt.

Gennari schafft eine ambivalente Ästhetik metaphysischer Verweiskraft, seine Arbeiten versuchen diskret und doch sehr gezielt, den Schein materieller Objekthaftigkeit zu transzendieren. Seine Arbeiten bilden ontologische Scharniere, sie lassen den Betrachter die Objektkonstellationen durchdringen, ohne diese jedoch aufzulösen oder im Sinne einer Dekonstruktion „zu überwinden“. In diesem Sinn sind Gennaris Arbeiten auf subtile Weise ausgewogen und doch semantisch unruhig und „nicht schlüssig“, nicht abschließbar. Er schafft eine Form der Polysemie, die nicht bloß hypothetische, imaginäre Räume eröffnet, sondern die von einem metaphysischen Raum jenseits der dinglichen, nein auch der sinnlichen Welt zeugt.

David Komary