Aktuelle Ausstellung
Vergangene Ausstellungen / Archiv
Publikationen
Publikationen
Programm
Verein
Artist in Residence
Kontakt

Juni, Juli, September 17

Text | engl. | Abbildungen



Künstlerinnen: Alicja Karska, Aleksandra Went

Alicja Karska und Aleksandra Went setzen sich in konzeptuellen Fotografien und Videos mit Fragen der Erinnerung und Mechanismen des kulturellen Gedächtnisses auseinander. Karska und Went, die bereits seit 2002 gemeinsam arbeiten (und im Frühjahr 2017 zu Gast bei AIR – Artist in Residence Niederösterreich waren), fokussieren dabei nicht allein Logiken des Ein- und Ausschlusses, also die Frage, ob und auf welche Weise ein kulturelles Artefakt oder Kunstwerk ins Archiv zu gelangen vermag, sie untersuchen zudem gezielt Auslassungen, Unwägbarkeiten und nicht sichtbare Bereiche des Archivs, die sich oftmals als der Kunstbetrachtung inhärente blinde Flecken abbilden.

Die evokative Kraft des Blicks, also die imaginäre Aufladung durch den Betrachter, sowie subtile Bedeutungsverschiebungen durch Kontextbruch und zeitliche Distanz bilden zentrale Instrumente in den Arbeiten von Karska und Went. Der Betrachter wird herausgefordert, das Gezeigte zu lesen, zu decodieren und es in Beziehung zum eigenen „Archiv“ zu setzen. Obschon sämtliche Arbeiten der Ausstellung Absenteeism mit der Darstellung von Skulpturalem zu tun haben, kommt der Skulptur selbst ein eher peripherer, modellhafter Status zu. Karska und Went fragen vor allem nach der archivischen Inszenierung des Exponats, nach seiner Repräsentation. So wird beispielsweise in An Archive of Destructs weniger die morphologische Erscheinung oder die künstlerische Qualität der klassizistischen Skulpturen thematisiert, denn ihr Status als Artefakte, die in einem bestimmten kunst- und kulturgeschichtlichen Kontext entstanden sind und ins kulturelle Archiv eingegliedert wurden. Die Künstlerinnen untersuchen nicht physische, phänomenologische Aspekte der Skulpturen, sondern ihre kulturelle „Beschriftung“ und Verzeitlichung durch das Archiv. Indem sie die zeitliche Dimension der Werke in den Vordergrund rücken, machen sie auf die Veränderbarkeit ihrer Bedeutung, ihres „Wertes“, im Wandel der Zeit aufmerksam und verweisen auf den Möglichkeitsraum der Semiotisierung und Bedeutungszuschreibung im Hier und Jetzt der Kunstbetrachtung.

In der fünfteiligen Serie Ebru (2015) arbeiten Karska und Went mit mimetischer Täuschung und der Manipulation von Größenverhältnissen. Der Betrachter sieht sich mit fünf Steinplatten konfrontiert, deren Größe, Oberflächenglanz (Politur) und individuelle Maserung ihnen räumliche Autorität und Präsenz verleihen. Als materialisierte (geologische) Akkumulation von Zeit sind sie Sinnbilder der Erinnerung und des Gedenkens. Doch sieht sich der Betrachter alsbald dieser auratisch-kontemplativen skulpturalen Erfahrung beraubt. Im Näherkommen erweisen sich die Steingevierte als hochglänzende Plexiglasplatten, die Marmorstrukturen geben sich als Simulakren, als Nahaufnahmen alter marmorierter, teils beschädigter Buchumschläge zu erkennen.

Durch das Moment der Desillusionierung führen die Künstlerinnen den Betrachter unmerklich hin zu einer repräsentationskritischen Betrachtungsweise. Die Chiffre „Stein“ bzw. „Marmor“ löst beim Betrachter Assoziationen aus, die durch die Buchgestaltung mit marmoriertem Papier gezielt hervorgerufen werden sollen: Marmor wird hier als Code für die Attribute „kulturell wertvoll, erinnerungs- und sammlungs-
würdig“ erkennbar.
Mit dem Umschlagen der Größenverhältnisse von Steinplatten- zu Buchgröße schaffen Karska und Went eine Distanz zum Betrachtungsdispositiv, sodass das Kunstbetrachtungsszenario, in dem sich der Betrachter befindet, geradezu exemplarisch erscheint. In ironischer Zuspitzung wird das Begehren der ausgestellten Exponate erkennbar, sich selbst als sammlungswürdig und ausstellenswert zu erweisen, während im gleichen Zuge, sozusagen auf systemischer Ebene, das Phantasma des Archivs, die Verheißung stetiger Progression sowie das Versprechen symbolischer Verfüg- und Kontrollierbarkeit lesbar gemacht wird.

Karska und Went analysieren konzeptuell und dennoch bildpoetisch offen die Bildung kultureller Werte durch Kanonisierung. Sie machen jene an sich unsichtbaren Prozesse und Strukturen archivischer Institutionen bewusst, die kulturelles Erinnern wesentlich regulieren. Mit einfachen visuellen Eingriffen und Analogisierungen gelingt es den Künstlerinnen, den Betrachter nach seinen eigenen Betrachtungsweisen und Lesarten von „kulturell Bedeutsamem“ zu befragen. Durch welchen „Rahmen“ wird das Gezeigte hervorgehoben, welche „Inszenierung“, welche Darstellungsweise lässt es kulturell relevant, ja wertvoll erscheinen? Nicht das Gezeigte, das Artefakt oder Kunstwerk bringt den Wert aus sich hervor, dieser wird wesentlich vom Archiv evoziert. Erst die Eingliederung ins Archiv, das In-Beziehung-Setzen zum Kontinuum bereits gesammelter Artefakte, lässt ein Werk für die Kunst- und Kulturrezeption sichtbar und für Techniken des Vergleichs zugänglich werden.

Die Arbeiten von Karska und Went lassen durchaus subtile Kritik an verdeckten Routinen des Archivs erkennen, zeigt sich dieses doch stets von bestimmten Leitfiguren bestimmt und mitunter auch instrumentalisiert. Dennoch unternehmen die Künstlerinnen keine explizite Wertung oder Dekonstruktion bestimmter kunstgeschichtlicher Konventionen oder Klassifizierungen. Sie versehen die Momente der Einschätzung und Zuschreibung durch den Betrachter vielmehr mit einem Fragezeichen und weisen auf die kulturelle Geprägtheit und Geschultheit des Blicks hin. So zeigen Karska und Went im SW-Video Difficult Age (2015) die Nahaufnahme einer Hand beim Durchblättern eines alten Kunstkatalogs, in dem unterschiedliche, mit Bildunterschriften versehene skulpturale Darstellungskategorien abgebildet sind. Die filmische Einstellung ist dabei so gewählt, dass man stets nur einen Ausschnitt der Skulpturabbildung erkennen kann und die darunter lesbare Bildunterschrift, wie Porträt eines Helden, Erste Liebe, Familie, Geometrische Komposition, das unvollständige Bild inhaltlich erweitert, wenn nicht gar überlagert. Die ruhige, beharrliche Vorführung der einzelnen darstellerischen und szenischen Konventionen im Durchblättern des Katalogs lässt die Skulpturen, freilich entgegen ihrer Intention, unselbständig und unsouverän erscheinen und die kontemplative Buchlektüre in einen subversiven Akt der Kunstgeschichtslektüre münden.

Die zeitliche Distanz macht die Normiertheit dieser einst als zeitgenössisch-relevant erachteten Kunst deutlich, die schon zu ihrer Entstehungszeit zu wissen meinte, was und wie sie darstellt und die damit wohl das Potential zur Differenzbildung und damit zum Eintritt ins kulturelle Archiv wesentlich verspielt hat. Und dennoch, obwohl die vermittelten Darstellungsnormen Beklemmung verursachen und die Autorität der Exponate eine angeschlagene ist, zielen Karska und Went nicht darauf, die im Buch repräsentierte Zeit und ihren Kunstbegriff der Lächerlichkeit preiszugeben oder zu demontieren, sondern fokussieren einerseits die Bedingtheit des klassifizierenden Blicks und weisen andererseits auf die Kontingenz und Veränderbarkeit des kulturellen Archivs an sich hin.

Im fünfminütigen Video An Archive of Destructs führenKarska und Went den Betrachter in das Kellerlager der Alten Orangerie des Warschauer Łazienki-Parks, in dem beschädigte und ausrangierte klassizistische Gipsskulpturen des 18. und 19. Jahrhunderts gelagert werden. Zu Beginn des Kurzfilms sieht man einen weißen Pfau, einen Albino, der unvermittelt in den Lagerräumen erscheint. Der Pfau, ein exotisches Statussymbol europäischer Gartenkunst, erscheint hier selbst verfremdet, ein Sonderling seiner Art. Anfangs noch deplatziert, gar orientierungslos, beginnt er sich alsbald im Lager umzusehen. Er beginnt, sich sein neues Umfeld „anzueignen“, geradezu so, als würde er eine für die Öffentlichkeit unzugängliche „Ausstellung“ begehen. Dem Pfau und seinem unerwarteten „Museumsrundgang“ folgend, werden dem Betrachter des Films die beschädigten Exponate in ihrem verwaisten Dasein, ihrer für die Öffentlichkeit unsichtbaren Präsenz, vorgeführt.

Nicht nur der Status des weißen Tieres ist irritierend, auch die Exponate der „Off-Ausstellung“ scheinen an diesem archivischen Nicht-Ort zwischen ehemaligem Ausstellungswert und reinem Materialwert zu oszillieren. Den beschädigten Skulpturen kommt ein fragwürdiger Status zu, denn einerseits sind sie zu wertvoll, um sie zu entsorgen, andererseits nicht bedeutend genug, um sie zu restaurieren und wieder auszustellen. Schon ihr Mangel an stilistischer Autonomie lässt die klassizistischen Objekte kunsthandwerklich wertvoll und dennoch minder bedeutend erscheinen. Ihre Beschädigtheit hingegen, der Grund ihrer Ausmusterung, verleiht ihnen eine gewisse Patina und macht sie, wenn auch für niemanden sichtbar, zu traurigen Zeugen kulturgeschichtlichen Wandels.

Karska und Went machen in An Archive of Destructs die Kehrseite einer Sammlung zum Thema. Diese andere Seite, das Nichtsichtbare, Ausgemusterte und kulturell Dysfunktionale, macht indirekt die Selektionsmechanismen beim Ausstellen und Archivieren sichtbar. Das Archiv ist eben nicht neutrale Sammlung und Anordnung von Objekten, denen ihre Bedeutung immanent ist. Die Mechanismen, was auf welche Weise und von wem für interessant und somit sammlungswürdig und ausstellenswert befunden wird, zeigen sich hier weder als „verlässlich“, dauerhaft, noch in irgendeiner Weise als „fair“. Was zu einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten kulturellen Kontext als sammlungswürdig und wertvoll erscheint, kann diesen Wert einbüßen, in Vergessenheit geraten oder gar aus dem Archiv entfernt werden. Das Archiv erweist sich somit einerseits, von außen betrachtet, als souverän und hermetisch, andererseits als formbar, veränderlich, sogar labil. Es verhandelt Gegenwärtiges (das ins Archiv einzutreten begehrt) wie Vergangenes (und seine Stellung im Archiv) und entwirft stets auch im Ansatz eine Vision von Künftigem, wodurch ihm ein projektives, ja utopisches Moment inhärent ist.

Die Arbeiten von Karska und Went zielen nicht auf eindimensionale Kritik an bestehenden oder einstigen Mechanismen der Klassifizierung, Kategorisierung und Archivierung von Kunst. Ihre Arbeiten fokussieren auch nicht das Vage und Latente des Archivs, um die „Erlerntheit“ des Blicks und der Kunstbetrachtung als Manipulation zu decouvrieren. Die archivischen Leerstellen und Diskontinuitäten in den Arbeiten von Karska und Went verweisen den Betrachter auf einen Möglichkeitsraum semiotischer Transformation und symbolischer Variabilität, einen Raum archivischer Polysemie, in dem die Vergangenheit mit ihren Möglichkeiten, aber auch Unwägbarkeiten konfrontiert wird und auf diese Weise in die Gegenwart hineinwirkt.

 

David Komary