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Oktober, November 23

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Die polnischen Künstlerinnen Alicja Karska und Aleksandra Went setzen sich in ihren Fotografien, Videos und Objekten mit Fragen der Erinnerung und Mechanismen des kulturellen Gedächtnisses auseinander. Karska und Went, die seit 2002 zusammenarbeiten und bereits im Frühjahr 2017 und 2022 zu Gast bei AIR – Artist-in-Residence Niederösterreich waren, fokussieren in der Ausstellung Displaced – der Titel steht hier als Synonym für verschoben, verdrängt, disloziert – auf Objekte, deren Zeit vorüber zu sein scheint. Sie richten den Blick auf Übersehenes und Desolates, auf Dinge, die an der Schwelle stehen, in Vergessenheit zu geraten und mnemisch getilgt zu werden.

Die evokative Kraft des Blicks, die imaginäre Aufladung durch den Betrachter sowie subtile Bedeutungsverschiebungen durch Kontextbruch und zeitliche Dislozierung bilden zentrale semiotische Instrumente von Karska und Went. Sie interessieren sich nicht alleine für die Frage, ob und auf welche Weise ein Objekt oder Artefakt erinnert wird und so archivisch „relevant“ bleibt, sondern denken gezielt über Auslassungen, Unwägbarkeiten und nichtsichtbare Bereiche des Erinnerns und der Archive nach. Der Betrachter wird herausgefordert, das Gezeigte zu lesen, zu decodieren, dabei aber relational-empathisch auch aktiv in Beziehung zum Gesehenen zu treten. Indem Karska und Went die Objekte einer reaktualisierenden Lesart zuführen, schaffen sie eine Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart, sodass das vertraute Zeitdispositiv mit einem Fragezeichen versehen wird.

In der Fotoserie Asteroid, Radiant, Diatret, Rotor, Sahara… (2020) konfrontieren die Künstlerinnen den Betrachter mit einem Meer aus bunten Glasscherben, realiter den Überresten der ehemaligen, in den späten 1970er-Jahren geschlossenen Glasfabrik Zombkowitz in Dombrowa im Süden Polens. Bei genauerem Hinsehen werden u.a. Fragmente von Glasobjekten der polnischen Designer Eryka und Jan Drost erkennbar, die einst in dieser Fabrik hergestellt wurden. Die beschädigten, ausgemusterten oder nie fertig gestellten Exponate, die nunmehr seit Jahrzehnten den Boden des Grundstücks säen, scheinen an diesem archivischen Nicht-Ort zwischen potentiellem Ausstellungswert und reinem Materialwert zu oszillieren. Ihre Beschädigtheit verleiht ihnen nicht nur eine gewisse Patina und macht sie zu (traurigen) Zeugen zeitlichen Wandels, die Anmutung des zerbrochenen Glases lässt an ein möglicherweise gewolltes, gar gewalttätiges Moment der Tilgung, der mnemischen Löschung denken.

Das Ausgemusterte, Sammlungsunwürdige und kulturell Dysfunktionale macht indirekt Selektionsmechanismen des Erinnerns und Archivierens sichtbar. Das Archiv ist eben nicht bloß neutrale Sammlung und Anordnung von Objekten, deren Bedeutung ihnen immanent ist. Die Mechanismen, was auf welche Weise für interessant und somit als sammlungswürdig befunden wird, zeigen sich weder als verlässlich noch in irgendeiner Weise als „fair“. Indem Karska und Went die zeitliche Dimension der Werke in den Vordergrund rücken, machen sie auf die Veränderbarkeit ihrer Bedeutung, ihres kulturellen Wertes im Wandel der Zeit aufmerksam, verweisen im Gegenzug aber auch auf den – neuerlichen – Möglichkeitsraum der Semiotisierung und Bedeutungszuschreibung im Hier und Jetzt der Betrachtung.

Im Gegensatz zu den bildhaften Arbeiten von Karska und Went, die sich Fragen der Repräsentation, ihren Mechanismen und Hierarchien zuwenden, zeigt die Textilarbeit Study (Studium) eine für die Künstlerinnen in den vergangenen Jahren zunehmend wichtigere prozessuale und materialsprachliche Dimension. Gilt ein Stoff, ein Gewebe als besonders, so wird er im Falle einer Beschädigung mittels Kunststopfens, also durch manuelles Ergänzen des Gewebes, repariert. Die ausgebesserte Stelle bleibt aus der Nähe zwar meist erkennbar, das weitere Auftrennen des Stoffes kann auf diese Weise aber verhindert werden. Karska und Went wenden in der mehrjährigen und fortlaufenden Arbeit Study (Studium) die Technik des Kunststopfens jedoch nicht wirklich als Akt des Erhaltens oder Wiederherstellens an. Während sie zu Beginn noch ein Loch in einem beschädigten Baumwollgewebe zu reparieren scheinen, verleihen sie dieser Art des „Webens“ alsbald einen autonomen Status. Indem die Künstlerinnen dem Stoff immer neue Löcher zufügen, um sie im Anschluss alsbald zu stopfen, avanciert das Reparieren zu einem projektiven, gestaltgebenden Vorgang.

Das Ausbessern wird zur eigenständigen Form. Von der initialen Schadstelle geht, gleichermaßen in alle Richtungen, eine Art wucherndes Wachstum aus. Die Flickstellen, die sich aufgrund von Fadenstärke, Webrichtung und Farbnuance subtil unterscheiden, verdichten sich so zu einer landschaftsähnlichen Textilskulptur pastellartiger Weißtöne. Der eigentlich zu reparierende Stoff verschwindet dabei zur Gänze, er wird sukzessive von Flickstellen überformt und in ein All-over-artiges heterogenes Geflecht textiler Einzelheiten transformiert.

Die Interferenzen der Gewebeflicken lassen das textile Objekt nicht nur beinahe organisch und vibrierend erscheinen, das Stickgefüge bildet, gelesen als Prozesskunst, gleichermaßen eine Art zeitlicher Signatur, indem es die Arbeits- und letztlich Lebenszeit der Künstlerinnen widerspiegelt. Study ist so betrachtet weniger bloßes Objekt als vielmehr ein Medium der Verzeitlichung und auf diese Weise eine Art abstrakt-textiles Archiv von Dauer und Zeit per se. Das Moment des Reparierens, ein sozusagen bewahrerisches, rückwärts gerichtetes Unterfangen, wird dabei zu einem projektiven, in die Zukunft weisenden autopoietisch anmutenden Vorgang.

Während den meisten früheren Arbeiten der Künstlerinnen ein bewahrendes, fast restauratorisches Moment inhärent scheint, weist die raumfüllende Installation im Hauptraum der Galerie vordergründig betrachtet in die entgegengesetzte Richtung. Karska und Went zeigen in Rysunki (Drawings) aus den Jahren 2022/23 eine Konstellation aus 29 geviertartigen alten Spiegeln, die sie über viele Monate gesammelt und zusammengetragen haben. Die Spiegel weisen aufgrund ihres Alters nicht bloß Beschädigungen auf, indem die Künstlerinnen zudem die verbleibende Silberschicht bei sämtlichen Spiegeln manuell entfernen, scheinen sie sie auf den ersten Blick endgültig „blind“ zu machen und zu zerstören. Während sich die Schicht bei manchen Spiegeln wie von selbst ablöst, ist der physische Aufwand bei anderen jedoch markant. Der Duktus des Kratzens – Rysunki heißt zu Deutsch auch Zeichnen – basiert dabei nicht allein auf physischen, sondern ebenso auf subjektiven Faktoren. Entsprechend der „Handschrift“ der jeweiligen Künstlerin verleiht der Akt des Abschabens und Kratzens jedem Spiegel so eine durchaus individuelle Note. Bei manchen Spiegeln gleicht das Schaben einer sanften Textur, wohingegen es bei anderen einen Akt des Überschreibens oder des gehetzten, unbedingten Löschens widerzuspiegeln scheint. Die Kratzspuren, die sich oftmals tief in die spiegelnde Schicht einschreiben, entfalten dabei je nach Rhythmus, Richtung und Intensität eine geradezu ausdruckshafte Dimension, der teilweise etwas Gestisches und Obsessives anhaftet.

Das eigentliche Ziel des Abkratzens ist dabei eigentlich metaphorischer, wenn nicht gar metaphysischer Natur. Es liegt im Löschen des jeweiligen „Gedächtnisses“ des Spiegels. Karska und Went verstehen den Spiegel in Rysunki nicht als bloß funktionales, visuelles Medium, etwa der Selbstbespiegelung und -kontrolle, sondern als mnemisches Medium, als erinnerndes Dispositiv. Was hat der Spiegel nicht alles gesehen, von welchen Ereignissen könnte er berichten oder Zeugnis ablegen? In diesem beinahe animistischen Verständnis vermag der Spiegel das Vergangene als ein die Zeiten überwindender Beobachter in sich aufzunehmen, als würde das „Gesehene“ in die Silberschicht indexikalisch eingeschrieben und gespeichert werden.

Indem die Künstlerinnen eben jenes Zeitpalimpsest abkratzen, scheinen sie vordergründig die Erinnerung des Spiegels zu tilgen. Der Flüchtigkeit vergangener Ereignisse wird so ein Moment der mnemischen Entmaterialisierung gegenübergestellt. Doch geht es den Künstlerinnen weder um Dekonstruktion noch um Wehmut ob der Unwägbarkeiten bleibenden Erinnerung. Betrachtet man den Akt des Abkratzens, jenes Zeichnens, vielmehr produktionsästhetisch, aus er Perspektive künstlerischen Handelns, so wird erkennbar, dass die Künstlerinnen von der Innen- bzw. Hinterseite des Spiegels her arbeiten. Sie beziehen, quasi emphatisch, die Blickposition jedes einzelnen Spiegels, sehen sozusagen in und auf die Welt, wie es der Spiegel tat. Gleichzeitig machen sie, in Übertragung und Antizipation des BetrachterInnenblicks, den Blick frei für ein neues, aktuelles Sehen, auf die Welt. Rezeptionsästhetisch wird folglich auch der Betrachter in die jeweilige Position des jeweiligen Spiegels versetzt. Er sieht, letztlich 29-fach, jeweils aus einer anderen Sicht und mehr noch, in eine andere Zeit. In ihrem Zusammenspiel verdichten sich die Spiegel nicht nur zur Sehmaschine, die den Raum mehr visuell öffnet und aufbricht, sie bilden vielmehr ein zeitliches Dispositiv, das den Raum mnemisch und polychronisch, mit Blick auf unterschiedlichste Zeiträume hin, öffnet.

Jeder Spiegel erweist sich dabei selbst als komplexes kleines Dispositiv. Je nach Duktus des Kratzens, nach spiegelnden Anteilen und Farbigkeit, zeigt sich dem Betrachter ein eigenständiges innerbildliches, zugleich den Raum miteinbeziehendes Szenario. Die einzelnen Spiegel weisen per se vier unterschiedliche Schichten auf, die dabei die piktorale Präsenz sowie das Reflexionsgeschehen bestimmen: Von innen nach außen betrachtet stößt der Betrachter zuerst auf die oft nicht zur Gänze abgekratzte Schutzschicht (orange, braun), dann auf die darunter liegende Silberschicht, dann wieder auf die auf leicht andere Weise spiegelnde Glasschicht, und schließlich auf die durchscheinende weiße Wand. Manche Spiegelobjekte erscheinen so silbrig hell, andere kupferfarben, wieder andere durchscheinend. Bei gewissen Objekten hingegen tritt mehr das „zeichnerische“ Geschehen und somit der affektive Gehalt in den Vordergrund.

Die Einzigartigkeit der piktoralen Erscheinung und Performanz jedes einzelnen Spiegels lässt den Betrachter, auch aufgrund der oft geringen Größe, sehr nahe herantreten, sodass das Abgehen der Spiegelinstallation in einem   durchaus intimen Szenario mündet, das ein für Karska und Went wichtiges relationales Moment der Wahrnehmung, das In-Beziehung-treten mit den jeweilig imaginierten Erinnerungsräumen, betont und intensiviert. Die Spiegelinstallation wird als zeitsensibles und dem Subjekt und Persönlichen zugewandtes Dispositiv erfahrbar, das nur noch vordergründig von Beschädigtem, Dysfunktionalem handelt.

Im metapiktoralen Zusammenspiel der Spiegel formt sich ein polychronischer gemeinsamer Ort, der nicht nur von Vergangenem, von Überlagerungen gespeicherter Erinnerung handelt, sondern als eine Art antizipierender Zeitmaschine den Blick auch emphatisch-relational in die Zukunft zu richten, zu projizieren vermag. Das Spiegeldispositiv von Karska und Went schafft so ein Moment der zeitlichen Reflexion und Transzendenz, das im Sinne eines Erinnerns nach vorne eine überzeitlichere Form der Betrachtung und des Denkens erlaubt.

Die Leerstellen, Diskontinuitäten und subtil gesetzten mnemischen Unterbrechungen in den Arbeiten von Karska und Went sind weder eindimensionale Kritik an bestehenden Mechanismen des Erinnerns, noch handeln sie von der bloßen Erlerntheit des Blicks auf Vergangenes, sie schaffen vielmehr einen Möglichkeitsraum semiotischer und mnemischer Transformation. Die Künstlerinnen zielen auf eine durchaus persönliche, emphatische Form der Anverwandlung, die, wenn auch stets im Hier und Jetzt der Wahrnehmung begründet, Künftiges zu antizipieren und so potentiell auch auf dieses einzuwirken vermag. Karska und Went schaffen in ihren Arbeiten einen menmischen Möglichkeitsraum, in dem Vergangenheit und Gegenwart nicht nur in ihrer Reziprozität lesbar werden, sondern in dem sich ein Ansatz, eine Vision von Künftigem und letztlich vorsichtig stets auch ein utopisches Moment mitgedacht findet.

 

David Komary