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April – Juni 23

Text | engl. | Abbildungen



Künstlerin: Eve Heller

Auf den ersten Blick lassen die Fotografien und Filme von Eve Heller ein poetisch-dokumentarisches Moment erkennen. Sie handeln vom Beobachten, Betrachten, ja vom visuellen Abtasten des Realen, wobei die Bilder auch stets eine zeitlich-kontemplative Dimension bergen. Es geht nicht um das Erkennen oder Wiedererkennen des Abgebildeten, sondern um den Vorgang einer vertiefenden Bildlektüre, in der das Bild sein assoziativ-semantisierendes, aber ebenso auch sinnlich-taktiles Potential entfaltet.

Eigentlicher Gegenstand der Ausstellung IN AND OUT OF TIME ist das menschliche Porträt, so finden sich drei unterschiedliche Annäherungen an das Thema in der Ausstellung wieder. Zwei filmische Arbeiten stehen dabei einer Fotoserie gegenüber. Porträt meint hier nicht so sehr individuelles Abbild, sondern, in einem erweiterten Sinn, eine universellere, gar existentielle Betrachtung des Menschen. Heller begreift den Menschen dabei nicht nur in seinem situativen Sein, sondern auch in seinem Gewesensein und Werden. Mit Mitteln des experimentellen Films denkt sie in und mit Bildern über den Menschen, über Menschsein und letztlich über Aspekte des Seins wie Leben, Freude, aber auch Leiden und Tod nach.

Eve Heller beschreibt ihren Zugang zum Medium Film als sehr persönlich, aber auch als fragil. Schon früh hat sie – insbesondere im Arbeiten mit found footage – die Idee klassischer Autorschaft hinter sich gelassen. Heller tritt bewusst einen Schritt zurück, sie sortiert, arrangiert gefundenes Bildmaterial, setzt es aber auch auf Distanz. Dieses Ausloten des Nähe-Distanz-Verhältnisses ist ein wesentliches Merkmal der ästhetischen Praxis Hellers. Einerseits bedient sie einen taktilen, beinahe haptischen Blick. Sie schafft Berührung, empathischen Kontakt mit dem Betrachteten. Andererseits rückt sie Dinge, Orte, Personen, auf Distanz, schafft Zwischenräume, arbeitet mit Absenzen und semantischen Leerstellen, die eine aktive Lektüre des Betrachters herausfordern und den Film selbst so zu einem eigenständigen rezeptionsästhetischen Handlungsraum werden lässt.

Das Bild fungiert bei Eve Heller weniger als abbildendes Medium, denn als eine Art Sucher und Seismograph. Sie tastet das Betrachtete ab, verlangsamt den Blick, fügt Unterbrechungen ins Bildkontinuum ein, sodass eine eindeutig-semantisierende Lesart oder gar eine Instrumentalisierung des Blicks unterwandert wird. Die Künstlerin bedient sich eines einfühlenden Sehens, dem eine geradezu taktile Qualität zukommt. Oftmals geht sie, wie in ihrem Film Singing in Oblivion, Spuren individuellen Lebens und persönlicher Geschichte nach. Dabei geht es weniger um Faktizität, um reale Geschichte, als um die Evokation von Erinnerungsräumen, die in der Annäherung und Andeutung verbleiben. Das Bild macht dabei mögliches vergangenes Leben vorstellbar, imaginierbar. Die Künstlerin denkt das Betrachtete dabei stets durch verschiedene Zeitschichten hindurch, sodass sich ihre Bilder durchaus als heterochronische Porträts lesen lassen, die verschiedene Zeitlagen miteinander in Beziehung setzen. Individuelle, situative Zeit (des Lebens) trifft dabei auf Zeit per se (im Sinne eines Mediums). Heller schafft ein zeittranszendierendes, eigentlich metapiktorales Porträt, das auf paradoxe Weise individuell, doch ebenso universell ansetzt. Fotografisches Bild und Filmbild bilden dabei einen Resonanzraum, mnemisch-imaginativ, doch ebenso emphatisch-relational.

In Astor Place zieht sich die Künstlerin, zumindest vordergründig betrachtet, ganz auf die Rolle der Beobachterin zurück. Der Betrachter sieht hier minutenlang durch ein nach außen zu verspiegeltes Schaufenster auf den Astor Place, einen belebten, hoch frequentierten Platz in New York City. Was auf den ersten Blick wie eine einzige Aufnahmeeinstellung wirkt, erweist sich realiter als subtile Aneinanderreihung unterschiedlich langer Einstellungen, die mit einer handgehaltenen 16mm-Kamera gedreht wurden. Man sieht Passanten, die flüchtig vorbeiziehen. Manch einer wirft, ohne zu wissen, dass er beobachtet wird, einen Blick in die Kamera, um alsbald weiterzugehen. Die Kamera scheint hier, in metaphorischer Übertragung, nicht bloß Licht, sondern Personen einzufangen.

Der Film scheint sich geradezu von selbst aufzuzeichnen. Dennoch zeigt Astor Place keinen autorlosen Blick. Heller schafft vielmehr eine Beobachtung zweiter Ordnung, bei der der Betrachter beginnt, sich selbst beim Beobachten zuzusehen. Wer sieht hier wen, wer steuert die Sichtbarkeit wessen? In diesem Changieren von Öffentlich und Privat, Sichtbarem und Verborgenem, wird das anfänglich so unmittelbar erscheinende aufgenommene Geschehen seiner Unschuld beraubt. Der Betrachter gerät dabei, durchaus im Sinne eines Voyeurs, selbst in eine exponierte Rolle. Aus dispositivkritischer Perspektive erscheint das filmische Sehen hier latent auktorial. Der öffentliche Raum wird so auch als visuell besetzter und verwalteter Raum erkennbar, dem stets verborgene Logiken des visuellen Zugriffs und der Verwaltung eingeschrieben sind.

Entgegen einer allein blick- und dispositivreflexiven Lesart sei betont, dass Eve Heller das Bewegungsgeschehen bewusst verlangsamt. Wirklichkeit und Repräsentation weisen so eine Differenz auf, wobei den fluid anmutenden Bewegungen der Passanten eine eigenständige sinnliche Qualität zukommt. Der Eingriff der Verlangsamung rückt das Geschehen nicht nur auf Distanz, sondern verschiebt den Fokus von jenen blicktheoretischen Fragen hin zu den Menschen, ihrem individuellen Sein und ihren eigenen Geschichten. Jeder Passant entfaltet, zumindest für einen kurzen Moment, ein eigenes kleines Narrativ. In diesem Nebeneinander des Gleichzeitigen, in der Interferenz und Verwobenheit mikronarrativer Erzählungen, wird der Mensch als eigentliches Thema jener „choreography of humanity“ (Eve Heller) erkennbar.

Im Sinne eines Metafilms ist Astor Place ein Nachdenken über das filmische Sehen selbst. Er ist durchaus auch eine filmgeschichtliche Hommage an die Brüder Lumière. Darüber hinaus fragt Heller aber auch, wie das filmische Sehen das Bewusstsein zu formen vermag. Die Künstlerin deutet auf ein eigenständiges Sehen und Verstehen hin, das für ihre Arbeiten grundlegend ist. Ein Sehen, das jenseits bloßen Wiedererkennens eine Form präkognitiven und nonsprachlichen Verstehens ermöglicht und das dabei Erinnerung, Intuitives und Imaginatives mit einbindet.

Fotografie bildet für Eve Heller ein Medium und Instrument, das ihrem filmischen Denken meist vorangeht. Das fotografische Bild weist mit dem Film eine Art kontemplativer Verwandtschaft auf. „Photographic studies are essential to my film work”, so die Künstlerin. “It’s all a part of creating a kind of resonating chamber, magnetizing mindful focus and figuring out my feelings and thoughts“. Das Foto fungiert dabei als Mittel der Präkognition eines Orts, aber auch seiner Zeit(en). Es hilft der Künstlerin, den Ort auf eigene Weise zu verstehen und eine Beziehung herzustellen.  Heller lässt sich beim fotografischen Sehen betont Zeit. Ihre Bilder scheinen oftmals von einem Suchen ohne Horizont, ja ohne Schwerkraft zu handeln. Sie verlangsamen auf subtile Weise die Wahrnehmung und schaffen ein ruhiges Nebeneinander von Gleichzeitigem. In dieser fotografischen Kontemplation sucht Heller dem Gesehenen, Realen, weniger eine bloß bildhaft-autonome Präsenz abzuringen, als vielmehr eine Art ontologischer, ja sinnlich-epistemischer Verbindung zum Gesehenen herzustellen. Ihre Bilder sind so betrachtet weder Repräsentation noch Abstraktion, sondern relationale Tableaus, die dem Herstellen der Beziehung von sich zur Welt über das Medium des Blicks gewidmet sind. Die Künstlerin lässt in ihren Fotografien und Filmen Orte und Personen ästhetisch für sich sprechen, sie gibt ihnen Raum zu wirken, um mnemische, imaginative Räume zu evozieren. Der Betrachter ist somit wesentlich am Narrativ, an der Entfaltung der Bedeutung der Bilder und ihrer mnemischen Wirkung beteiligt. Semantische Koppelungen und Aufladungen, die weit über das Einzelbild hinausgehen, bilden ein assoziatives und erzählerisches Geflecht, das den so mitunter in hohem Grade imaginären Film im Auge des Betrachters mitkonstituiert.

Eve Heller porträtiert zu Beginn des SW-Films Singing in Oblivion in zehn ruhigen und eindringlichen Einstellungen den jüdischen Teil des Währinger Friedhofs in Wien. Der 1880 geschlossene Friedhof war bis zur Machtübernahme der Nazis öffentlich zugänglich, wurde aber seit der Nachkriegszeit aufgrund zunehmender baulicher Mängel und Gefahren der Öffentlichkeit nicht wieder zugänglich gemacht. Er ist nicht nur ein historisches Juwel eines Biedermeierfriedhofs und ein besonderes Naturreservoir, sondern als Ort selbst ein Mahnmal fehlender, vertriebener und ausgelöschter Generationen jüdischen Lebens.

Der Friedhof scheint bei Heller anfangs zwischen unberührtem Naturraum und geschichtlichem Ort zu oszillieren. Stilllebenartig tastet die Künstlerin die Ruinenlandschaft aus umgestürzten und überwucherten Grabsteinen mit hochauflösendem SW-Filmmaterial ab. Doch zeigt sie die Aufnahmen verlangsamt und somit leicht verfremdet, sodass sich alsbald ein Abstand zum Betrachteten einstellt. Die sanften Bewegungen der Blätter und Gräser machen die vermeintlichen Standbilder nicht bloß als Bewegtbild erkennbar, sie entfalten zudem eine latent unheimliche Wirkung. Denn Heller unterlegt das Bildgeschehen mit einem klanglich leicht veränderten Kontinuum sanfter, lebendiger Vogelgesänge, das mit den verlangsamten Bewegungen der die Gräber überwuchernden Blätter und Gräser in Widerspruch, in Differenz tritt und so zu einer zunehmenden Dekonstruktion der anfänglich poetisch-dokumentarischen Anmutung der Aufnahmen führt.

Hellers Arbeit ist von einer Dialektik des Sichtbaren gekennzeichnet. Ihr Film handelt von Sichtbarem, das vergeht, doch ebenso von Nichtsichtbarem, das zur Sichtbarkeit drängt und nach Sichtbarkeit verlangt. Die standbild- und fotografieähnlichen Einstellungen zu Beginn von Singing in Oblivion erscheinen so als Versuch des Festhaltens und Bewahrens jenes Orts vor dem Verfall und dem Vergehen. Heller rekurriert hier einerseits durchaus auf die indexikalische Verweiskraft des fotografischen Bilds, auf die Einschreibung des Realen als fotochemische Spur oder Abdruck. Anderseits lässt die Künstlerin ab der Mitte des Films eine dezidiert kinetische Dimension in das filmische Geschehen einbrechen. Die Verbindung von Wirklichkeit und Abbild scheint zunehmend entkoppelt. Heller verwendet hier nicht (länger) Bilder, um zu zeigen, sondern verhilft ihrer inhärenten Rhythmik und ihren Interferenzen zur Sichtbarkeit. Bilder beginnen, einander abzulösen, einander nachzueilen, ja ineinander zu fallen. Nichtbilder und Dunkelheiten werfen den Blick an den Betrachter zurück. Als wäre das Filmische aus dem Dunklen heraus modelliert, treten dem Betrachter Gräser, Blätter, aber auch Gegenstände wie Ketten und Stoffe pulsierend gegenüber, um dem Blick alsbald wieder zu entgleiten. Heller eröffnet in dieser zweiten Filmhälfte jedoch nicht bloß einen abstrakteren, deutlich materialsprachlich bestimmten Raum, sie bettet auch gefundene Glasnegative in das filmische Geschehen ein, die Menschen und Familienszenen unbestimmter Provenienz zeigen, sodass Momente einer möglichen Vergangenheit jüdischen Lebens evoziert werden. In manchen Einstellungen scheint es gar zum direkten Blickwechsel mit den Protagonisten zu kommen. Am Ende des Films sieht man, während das Filmbild in seinem Wechsel aus Hell und Dunkel beinahe zu atmen scheint, einen Mann und eine Frau, die liebend auf ein (ihr) Baby blicken. Und schließlich, als abschließendes Bild, sieht man einen (jenen) Säugling, der in einem geradezu brecht’schen Sinn dem Betrachter aus dem Film direkt entgegensieht – fragend, auffordernd, ja anklagend.

Die mittels Kontaktkopien ins filmische Geschehen eingebetteten Gegenstände und Texturen scheinen in ihrem objekthaften Status dem zunehmend abstrakten und materialsprachlichen Filmgeschehen im Sinne ontologischer Anker entgegenzuwirken. In diesem Changieren von Abstraktion und Figuration begegnen sich Gegenständliches und Piktorales auf Augenhöhe, während sich im selben Zuge Signifikant und Signifikat voneinander zu entfernen scheinen. Heller eröffnet hier einen filmischen Raum, der das Einzelbild weit hinter sich lässt und Film wesentlich strukturell vorstellt, als Gefüge und Geflecht von Bildern, deren Semantisierung sich in der Synthese, im kognitiven Apparat des Betrachters ereignet. Heller bringt hier jene blickreflexive und metafilmische Dimension mit ins Spiel, die bereits in Astor Place thematisch wurde. Nicht nur was ich sehe, sondern wie ich sehe und wie ich durch und mit dem Bild wahrnehme und denke, ist hier von Interesse. Die Künstlerin generiert so einen semiabstrakten mnemischen Raum, dessen „Indexikalität“ beziehungsweise Verweiskraft nicht auf Faktischem, Dokumentarischem beruht, sondern auf der interpretierenden und verdichtend-synthetisierenden Lektüre des Betrachters. Das direkt Repräsentierte und Abbildete tritt hierbei zugunsten eines filmisch autonomen Sehens zurück, das Zeit und Dauer als wesentliches Material zur Grundlage hat. Diese sozusagen „generierte Indexikalität“ von potentiell Gewesenem beruht oder mündet jedoch keinesfalls im Beliebigen. Heller dekonstruiert vielmehr das Phantasma der einen gegebenen, schlicht vorhandenen Geschichte und weist die Verantwortung schließlich dem Betrachter selbst zu. Sie lenkt den Fokus auf das System der Betrachtung, medial, apparativ, letztlich politisch. An dieser Stelle treffen sich die beiden Filme der Ausstellung IN AND OUT OF TIME inhaltlich: Der blicktheoretische, foucault’sche Ansatz in Astor Place bildet dabei die eröffnende Frage, während Singing in Oblivion sie anthropologisch und existenziell aufgreift und fortführt.

Heller bewegt sich in ihrer Arbeit zwischen Zeit, Verzeitlichung und Zeitlosigkeit. Ihre Filme und Bilder handeln vom Sein, vom In-der-Zeit-Sein, doch ebenso vom Werden, vom Kontinuum der Zeit wie ihrem Vergehen. Diese zeitphilosophische Dimension bildet ein durchgängiges Motiv, eine Art Bordunton in Hellers Werk. Das Bild ist hier kein Mittel der Aufzeichnung oder des Festhaltens, sondern ein auf mehrfache Weise das Reale transzendierendes Medium. Ein Medium im Sinne eines Mittlers zwischen Gegenwart und Vergangenem, genauer gesagt, Imaginiert-Vergangenem. In der Betonung dieses evokativen Potentials des Bildes zeigt sich eine Idee von Vergangenheit, die nicht das Abgeschlossene, Konservierte, Faktische sucht, sondern die Vergangenheit wesentlich aus der Gegenwart (der Betrachtung) heraus konstituiert versteht. Singing in Oblivion zeigt so gesehen einen Ort, der letztlich auch die Begrenztheit des Seins selbst zu verstehen, zu transzendieren sucht. Der hier porträtierte Friedhof erscheint als Ort, der nicht nur Individuelles und Kollektives verbindet, sondern in seinem Changieren zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem auch auf eine Dimension von Zukünftigem hinzudeuten vermag.

Eve Heller sucht im Spannungsfeld von Individuum und Gesellschaft nach dem Bild des Menschen selbst. Bilder alltäglichen Lebens (Astor Place) können so der Tragik absenter Bilder und fehlender Geschichte (Singing in Oblivion) gegenüberstehen, ohne einander zu relativieren. Die Künstlerin evoziert in ihren Filmen und Fotografien einen Raum subtiler Beziehungen, die sich einem kontemplativen, einfühlenden Sehen verdanken. Das Bild fungiert dabei als Tableau empathischer Resonanz, es bildet ein Medium der Relationalität – über die Zeiten hinweg.

 

David Komary