Aktuelle Ausstellung
Vergangene Ausstellungen / Archiv
Publikationen
Programm
Verein
Artist in Residence
Kontakt

Dezember 18- März 19

Text | engl. | Abbildungen


Künstlerin: Helen Grogan

Helen Grogans ästhetische Praxis lässt sich als ein Feld von Wechselwirkungen und Interferenzen skulpturaler, fotografischer und filmischer Mittel beschreiben. Der Prozess der Beobachtung, der Wahrnehmung, spielt dabei nicht bloß eine zentrale Rolle, sondern wird selbst zum „Material“ gemacht. Grogans Arbeiten setzen sich unmittelbar und situativ mit den Gegebenheiten des Ausstellungsortes auseinander. Die Künstlerin befragt den jeweiligen Ort in physischer, ontologischer, aber ebenso sozioästhetischer Hinsicht. Jenseits rein formaler und phänomenologischer Komponenten bezieht Grogan dabei subtil die institutionellen Bedingungen des Ausstellungsformates in ihre ästhetische Befragung mit ein.
                       
Im Rahmen von Helen Grogans Aufenthalt bei AIR – ARTIST IN RESIDENCE Niederösterreich im Herbst 2018 entwickelte sich ein intensiver Austausch mit der Galerie Stadtpark über die Themen Wahrnehmung, Raum/Skulptur und Wirklichkeit, genauer gesagt über die kinästhetische und performative Dimension räumlicher Wahrnehmung, welche nunmehr in die Einzelausstellung UP TO AND INCLUDING mit zwei Rauminstallation mündet. 

Grogans Auseinandersetzung mit Raum findet im stetigen Bezug zum Körper, zum sich bewegenden Selbst statt. Ihre Arbeitsweise, genauer noch, ihr Raumdenken und Raumhandeln, lässt sich wesentlich vor dem Hintergrund ihrer früheren „Herkunft“ und Zugangsweise aus zeitgenössischem Tanz und konzeptueller Choreographie verstehen. Grogan hat sich in den skulptural-installativen Arbeiten der letzten Jahre dabei längst von Vorstellungen des Ausdrucks oder gar der Könnerschaft entfernt. Mehr noch, der Körper bleibt in ihren aktuellen Arbeiten selbst nicht-sichtbar, ja scheint per se absent, wenngleich er rezeptionsästhetisch den eigentlichen Adressaten und Fluchtpunkt bildet. Grogans Verständnis von Raum lässt sich, raumchoreo-graphisch gedacht, als Verdichtung und Überlagerung unterschiedlicher Sinneswahrnehmungen im Sich-Bewegen verstehen. Der gesamte Wahrnehmungsapparat, der kinästhetische Apparat sowie sämtliche Sinne treten in Resonanz zum Raum und schreiben bei dieser Wahrnehmungshandlung mit. Sie treten in Wechselwirkung miteinander, sodass Sinnliches, Reflexives und erkennendes Denken nicht (mehr) klar voneinander zu trennen sind.

Der Betrachter sieht sich in der raumgreifenden Installation POEM (with insistence on plurality) mit einem Gefüge aus Gegenständen, Vorrichtungen und Geräten konfrontiert, die, obgleich sie unterschiedlichen Kontexten zu entstammen scheinen, ästhetisch explizit miteinander zu tun haben und einen sich auf ersten Blick nicht sofort erschließenden interskulpturalen Zusammenhang bilden. Die Konstellation aus Bildschirmen (Flachbild-fernsehern), speziell angefertigten studioähnlichen Stahlgestellen (Trolleys) und abstrakt-objekthaften Gegenständen wie die mithilfe eines Gurtes von der Decke abgehängte Glasplatte, sind semantisch dabei nicht einfach und eindeutig zu dechiffrieren, im Gegenteil, es scheint, als ob die Objekt-konstellation versucht, den Betrachter in das sich herausbildende Feld wechselseitiger Semantisierung und Aufladung hineinzuführen und zu involvieren. Die verschiedenen Objekte fungieren dabei als Agenzien unterschiedlichen raumkonstitutiven und „performativen“ Potentials. Ein Objekt innerhalb dieser Installation kann ohne weiteres seinem eigenen Abbild (gezeigt auf einem der beiden Bildschirme) begegnen, wobei diese Doppelung durchaus zu einer zeitweisen Überforderung und Verunsicherung des Betrachters führen kann. Der Status des jeweilig Gesehenen scheint latent verschoben, ja ungewiss. Die einzelnen Objektvorkommnisse überwinden dabei ihren bloßen Objektstatus, um „ihre Aufmerksamkeit“ ganz auf Prozess wechselseitiger Semantisierung zu richten.

Der Betrachter wird zum Begehen der Installation aufgefordert, wobei diese subtil beginnt, seine Bewegungen zu choreographieren. Fast beiläufig und wie selbstverständlich „begegnen“ ihm auch zwei Bildschirme, aus heutiger Sicht bereits herkömmliche Flachbildfernseher, die fragmenthaft und ausschnittartig Aufnahmen des räumlichen Szenarios zu sehen geben. Man sieht Filmsequenzen, die den Raum durchaus intim und poetisch zeigen, beispielsweise eine Nahaufnahme jener von der Decke abgehängten, langsam rotierenden Glasfläche. Der Betrachter wird aber ebenso mit piktoral anmutenden Totalen konfrontiert, die dabei immer wieder auch Peripheres, also die „Aura“ des Ausstellungsraumes brechende Momente, zu sehen und zu hören geben, so etwa während des Ausstellungsaufbaues herumliegende Objekte, auf- und zugehende Türen etc. Die Bildsprache lässt die einzelnen Objekte dabei als räumlich Handelnde, teilweise sogar als „Protagonisten“ eigenen Charakters und Ausdrucks erscheinen. Die gezeigten Aufnahmen, die als wesentlicher Teil der Installation von Beginn an mitgedacht wurden, sind folglich nicht schlichte Aufnahmen des Entstehungs-prozesses der Installation, sondern befragen jene Objektprotagonisten piktoral (filmisch), untersuchen deren „Verhalten“ im Raum zu verschiedenen Zeitpunkten, was einen integralen Wesensbestandteil des installativen Gefüges darstellt. Grogan unternimmt eine skulptural-räumliche, aber auch eine zeit- und prozessreflexive Untersuchung des Zusammentreffens von Objekt(en) und Ausstellungsraum. Dieses Proben Üben im Raum ist einerseits dem Zusammenspiel und Wechselspiel, andererseits der Variabilität des ästhetischen Status der Objekte geschuldet.

Der Raum der Vielgestaltigkeit und Mannigfaltigkeit, der sich durch die unterschiedlichen Erscheinungs- und Präsenzformen der Gegenstände sowie deren interskulpturales Wechselspiel konstituiert, wird in POEM (with insistence on plurality) rezeptionsästhetisch schließlich dem selbst Betrachter überantwortet. Er sieht sich einem offenen, polysemischen Prozess der Erfahrung am Objekt und im Raum ausgesetzt, wobei die räumliche Aktualität des Hier und Jetzt mit jenen „zeitversetzten“ Räumen der Filmsequenzen eine Art medienontolo-gischen Interferenzraum bildet. Zeitweilig kommt es zu einer Art von Doppelung der Objekte, kommen sie doch simultan als Objekte im Raum sowie als Bildschirmpräsenzen vor, was sie zu einem Scharnier zwischen bild- und objekthaft-skulpturalem Sein werden lässt. Grogan geht es jedoch nicht um eine Relativierung des realen Status der Objekte, denn auch die filmischen Aufnahmen versuchen das jeweilige Hier und Jetzt, etwa durch die spezifische Lichtsituation, der jeweiligen Tageszeit bei der Aufnahme, widerzuspiegeln und lesbar zu machen. Das medial codierte Bild (Screen/TV-Bild) erhält vielmehr einen selbstverständlichen Status, es ist längst selbst „Realität“. Dennoch verlangt Grogan dem Betrachter die stetige Überprüfung eben jener Zuordnungen und Klassifizierungen, jener Konstruktion von Wirklichkeit, ab. Dabei spielt das Fragen, das Nicht-Wissen und Noch-Nicht-Wissen ob der eigenen Wahrnehmung im Sinne eines präkognitiven Möglichkeitsraumes die eigentlich zentrale Rolle. Der Wahrnehmende ist zwar sehr wohl aktiv, er agiert aber nicht autorhaft oder auktorial im Sinne eines wissenden, den Raum „beschriftenden“ Tuns, sondern findet sich vielmehr in der Rolle eines Resonators innerhalb des vorgefundenen räumlichen Gefüges wieder. Ein eindeutiges Gegenüber von hier das Ausstellungsobjekt und dort der Betrachter lässt sich bei Grogan nicht länger ausmachen. Die Grenze jener Zuschreibungen und Terrains ist vielmehr durchlässig, osmotisch, ja in stetiger Verhandlung. POEM (with insistence on plurality) lässt sich demnach auch nicht auf eine Lesart reduzieren, die Installation führt uns vielmehr schleichend und unablässig die Kontingenz der eigenen Wahrnehmung vor.

Der choreographische „Verzicht“ auf jeglichen Ausdruck, ja auf alles Darstellerische und im klassischen Sinn Choreographische ist bei Grogan eben dieser Offenheit und Durchlässigkeit, einer vielleicht sogar seismografischen Idee von Wahrnehmung geschuldet. Ein weiteres Moment von Dekonstruktion zeigt sich in der Verweigerung und Verneinung einer konventionalisierten Idee und Vorstellung von Raum, die im Sinne einer cartesianischen Trennung von Körper und Geist Raum als abstrakte, endlose, sozusagen reibungslose und damit auch entkörperlichte Dimension suggeriert. Grogan entzieht dem Betrachter dergleichen vermeint-liche Sicherheiten und Vertrautheiten, um den Fokus auf die sich tatsächlich ereignende Wahrnehmung zu lenken, auf eine Form von Wahrnehmung, die ein freies Sehen im Sich-Bewegen, ja eine Wahrnehmungs-synthese jenseits von komplexitätsreduzierendem Vorwissen ermöglicht. Die Installation zielt letztlich auf eine Idee von Freiheit (des Subjekts), die sich eben in dieser Selbstermächtigung der Wahrnehmung artikuliert. Dabei geht es freilich nicht um eine Form von Passivität der Wahrnehmung (im Sinne eines „unschuldigen Auges“), die bloß in Eskapismus und visuellem Konsum münden würde. Jene Freiheit im Wahrnehmen, jene Offenheit des ästhetischen „Urteils“, erfordert vielmehr eine spezifische Form von Aufmerksamkeit, ja eine Form von Mut, sich auf das aktuelle Szenario jenseits vertrauter oder/und konventionalisierter Deutungs- und Wahrnehmungsmuster einzulassen.

In INSIDE SMALL DANCE sieht sich der Betrachter einem frei hängenden, flachen und hauchdünnen Gummiband gegenüber, das von der Decke bis zum Boden reicht. Es endet nur wenige Millimeter über einem am Boden liegenden Spiegel, der das Band optisch verlängert, ja beinahe endlos erscheinen lässt. Durch den knappen Abstand zum Boden bzw. Spiegel vermag das vertikale Band auf liminale Luftströme des Raumes zu reagieren und diese kinetisch-objekthaft abzubilden. Wenngleich das Gummiband faktisch bloß von jenen Luftströmun-gen bewegt wird, erscheint es, im Sinne eines gestalthaften Gegenübers zum Betrachter, doch belebt und aus sich, also aus eigener Kraft heraus zu agieren. Der Status des Bandes changiert demnach zwischen dem eines Resonators, der bloß auf Äußeres reagiert und einer autonomen, ja „handlungsfähigen“ Präsenz. Dieses animistische Moment, der evozierte Eindruck von „Belebtheit“, lässt es zu einem schlanken Performer avancieren, der in Form elegant anmutender vertikaler Bewegungen einen kleinen Tanz (small dance), eine vorsichtig verhaltene Tanzvorführung zum Besten gibt.

Der am Boden liegende Spiegel lässt zudem das Außen der Galerie, den angrenzenden Stadtpark, zu einem integralen Bestandteil, ja zu einer sich im Boden nach unten auftuenden Raumöffnung werden, die den Raum nicht bloß erweitert, sondern geradezu aufzubrechen und aufzufalten scheint. Der Spiegel fungiert so betrachtet weniger als rein optisches Instrument, sondern ebenso als ein den eindeutig-ontologischen Status des Raumes erweiterndes Medium. Der Raum wird von einer festen, abgegrenzten Entität zu einem visuell durchlässigen, kontingenten Flächengefüge, das seine „Erscheinung“, seine Form, im Begehen verändern vermag. Grogan gelingt auch hier, mit einfachsten Mitteln, mit der Generierung eines einfachen skulptural-installativen Szenarios, grundlegende Parameter von Objekthaftigkeit und Räumlichkeit in ein ästhetisches Geschehen epistemologischer Dimension überzuführen. Ab wann erlangt ein Bild hier Objektstatus, wo schlägt Räumlichkeit in ein piktorales Geschehen um? Der Betrachter wird ob der Einfachheit und der sublimen Qualitäten der Installation visuell eingefangen, ja verführt, um sich alsbald in einem die Wirklichkeit infrage-stellenden räumlichen Geschehen wiederzufinden.

Grogan versteht den Ausstellungsort als grundlegend performativ. Die Künstlerin arbeitet mit Momenten der räumlichen Verschiebung, des Umschichtens und Rekonfigurierens, um die zeitlich-prozessuale Dimension des Räumlichen hervorzuheben. Ihre Arbeiten zielen auf eine Art körpereigener Aufmerksamkeit, auf ein Gewahr-werden des produktiven Potentials im Prozess der Wahrnehmung und auf die Wahrnehmung einer sich unablässig, wenn auch oftmals unmerklich verändernden Gegenwart und Wirklichkeit.

Grogans Installationen changieren zwischen konzeptueller Strenge und einer ästhetischen, genauer kinästhetisch erfahrbaren räumlichen Offenheit, die punktuell auch kontemplative, ja immersive Momente zulässt. Der Betrachter kann sich jedoch nie allzu lange auf eine oder die jeweilige Lesart, Interpretation oder Kategorisierung des Gesehenen verlassen, er vermag sich nicht auf einen bestimmten Betrachterstandpunkt und eine Betrachtungsweise zurückzuziehen. Die Künstlerin arbeitet punktuell mit einem provozierten immersiven oder semantischen Kollaps. Der Betrachter sieht sich einem subtil überfordernden, kontingenten, aber dennoch nicht beliebigen Wahrnehmungsszenario gegenüber, das die Verantwortung wesentlich an ihn selbst als Wahrnehmungshandelnden zurückgibt. Grogan arbeitet mit einer Idee von erweiterter und konzeptueller Choreographie, die die eindeutige Aufteilung von Autor/Künstler und Wahrnehmenden verschiebt. Sie zielt dabei nicht auf eine der sinnlichen Wahrnehmung übergeordnete Metaebene, die die Sinneseindrücke bloß (erneut) verwaltet, ordnet und somit selbst bloß wieder hierarchisch strukturieren würde. Grogan zielt vielmehr auf ein „fühlendes“ Denken, das Erkennen und Verstehen stets an die sinnliche Wahrnehmung rückbindet und auf sie bezogen bleibt. Anstelle von Eindeutigkeit, Zuordenbarkeit und Konsumierbarkeit der räumlichen Wahrnehmungsereignisse findet sich der Betrachter in einem gewollt epistemisch-unscharfen Wahrnehmungsszenario wieder, das Erkenntnis (Epistemologie) und sinnliche Wahrnehmung nicht in Opposition setzt, sondern deren Verbindung und Reziprozität sucht, um so eine Art ästhetikologischer Erkenntnis (A. G. Baumgarten) Raum zu verschaffen.

 

David Komary